Kommentar:
Eine Liebeserklärung

Vorwort

„In Meiner Jugend
bin Ich in den hauslosen Stand getreten
und habe die höchste vollkommene Erleuchtung
erlangt.

Aber in Wahrheit
ist Mein Leben
UNERMESSLICH,
unzählige Weltzeitalter:
beständig bleibt es,
nicht erlischt es.

Ihr guten Söhne alle.
Seit Ich ursprünglich
den Bodhisattva-Weg einschlug
und vollendete,
sind unermessliche,
unbegrenzte Hunderte von Tausenden
von Zehntausenden von Weltzeitaltern
vergangen;

und Mein Bodhisattva-Weg ist
bis heute noch nicht
erschöpft!“

der große Tathagata,
der ewige Buddha,

„Lotos Sutra“,
Kapitel 16:
„Die Lebensdauer des Tathagata“

(045) „Verstehst du denn auch, was du da liest?“ soll Philippus, einer der ersten Diakone des Urchristentums, den Kämmerer aus Äthiopien gefragt haben, A der über den Schriftrollen des Propheten Jesaja (Kapitel 53) sinnierte.

„Wie könnte ich denn, wenn mich niemand anleitet!“ soll dieser geantwortet haben. Er sann über ein Kapitel nach, in welchem die aufopferungsvolle Lebenshingabe eines Gottesknechtes beschrieben wurde, der schließlich mit einem Opferlamm verglichen wird, dass zur Erlösung aller sein Leben gab.

„Von wem sagt der Prophet dies?“, fragt der königliche Kammerdiener: „Von sich selbst oder von einem anderen?“

Und tatsächlich fallen – je nach dem religiösen Hintergrund – bis heute die Antworten unterschiedlich aus:

Die historisch-kritische Forschung hat festgestellt, dass es sich hierbei wohl tatsächlich um einen Nachruf auf den Propheten Jesaja handelt, der unter Manasse den Märtsrertod erlitten hat, jedoch – seinem Geiste nach – in seinen Jüngern, wie diese glaubten, weiter lebte und wirkte, B so dass sie – im sogenannten Deutero-Jesaja (Kapitel 40-55) und Trito-Jesaja (Kapitel 56-66) – seine Schriften fortsetzten.

Die Juden sehen in diesem für alle Welt stellvertretend leidenden Gottesknecht, C der am Ende für seine Hingabe um Gottes Willen über alle Welt erhöht wird, eine Metapher auf ihr eigenes Gottesvolk Israel.

Die Christen freilich sehen darin eine Prophezeiung auf Jesus, den Christus, E der im Leben des von Christi Geist bereits beseelten Propheten F gleichsam schon eine Vorabbildung erfahren hat, wie sich die niedersinkende Sonne vielfältig im Meer spiegelt.

All diese Deutungen haben ihren je eigenen Wahrheitsgehalt und ihre Berechtigung.

Ähnliche Fragen werden sich beim Lesen der Parabel „Der große Tathagata: Lockruf aus dem brennenden Haus“ ergeben, das auf dem ersten Gleichnis des Buddha beruht, wie es in der „Lotos Sutra“, der wichtigsten Heiligen Schrift des Mahayana-Buddhismus, überliefert ist.

Die Ähnlichkeiten des göttlichen Tathagata zu dem himmlischen Christus sind so frappierend, dass man auch hier fragen mag: „Von wem spricht hier Buddha eigentlich? Von sich selbst oder von einem anderen?“

Kann es sein, dass der göttliche Tathagata, der anfangs- und endlose, ewige Buddha, in den der historische „Buddha“, Siddharta Gautama, (als der erste „Erleuchtete“) durch die von ihm erfahrene Erleuchtung gleichsam ein- und in dem er aufgegangen ist, kein anderer ist als der göttliche Christus?

War Buddha, dessen Lehre der Christi erstaunlich ähnlich ist, und der sich – wie Christus – bei seiner Verkündigung vielfältigster Gleichniserzählungen bediente, am Ende von Christus beseelt – in Christus wiedergeboren, und Christus in ihm?

Buddhas zweites Gleichnis in der „Lotos Sutra“ vom barmherzigen Vater, der sich selbst entäußerst und Knechtsgestalt annimmt, I wirkt fast noch christlicher als das ausgesprochen ähnliche Gleichnis Christi vom verlorenen Sohn!

Oder war es umgekehrt? Ist vielmehr Christus durch seine Lebenshingabe, die bis zum Äußersten der Selbstaufopferung ging – wie die Buddhisten glauben – zum Buddha, einem weiteren „Buddha“ (also einem von der göttlichen Liebe „Erleuchteten“) geworden? – und ist der Vater, mit dem Jesus sich schließlich in eins sah und erlebte, in welchem er ein- und aufging, K kein anderer als der göttliche Tathagata und Ewig-Buddha?

So gibt es für die vorliegende Parabel ein sehr breites Deutungsspektrum – wie auch für das zugrunde-liegende Buddha-Gleichnis und die Lotos Sutra selbst, ja, für jede heilige Schrift – die Bibel eingeschlossen.

Die Frage muss erlaubt sein, inwieweit eine auf nur eine Religion oder Konfession beschränkte Auslegung eines dieser heiligen Texte deren wahren spirituellen Reichtum wirklich gerecht wird – oder diesen nicht vielmehr auf eigene religiös-konfessionelle Denkmuster einengt und einschränkt.

Entsprechend wagt diese Auslegung – auch in Bezug auf die zitierten heiligen Schriften des Christentums und des Buddhismus – eine eigenwillige, freimütige, keiner dogmatischen Engführung unterworfene Deutung, M die vor allem eines erkennen lassen will:

Egal, ob man nun von Jesus, dem Christus,
oder von Siddharta Gautama, dem Buddha, spricht:

Bei beiden Erlöserfiguren und Lichtgestalten
ist doch der selbe Lockruf der göttlichen Liebe zu vernehmen,
der hier wie dort – seit Jahrtausenden – Menschen froh und frei gemacht
und zu einem wahren Leben in befreiter, befreiender Liebe verholfen hat.

Diesen Heiland-Ruf der bedingungs-losen, un-bedingten, un-verlierbaren göttlichen Liebe N über alle religiösen und konfessionellen Grenzen und Hürden hinweg hörbar zu machen: Allein darauf kommt es an.

Und wer diesen Lockruf wahrhaft vernommen hat, der wird auch die als seine hinzu gewonnenen Geschwister (an-)erkennen, welche diesen Ruf in ihrer (anders-gearteten) religiösen oder konfessionellen Sprache vernommen haben und jenem Liebesruf folgen, O der sich vieler Sprachen und Zungen bedient.

Und wer weiß: Welches Herz auch immer erkennt, dass der Lockruf der Liebe, den es selbst vernommen hat, auch ganz andere ganz anders vernommen haben, der wird vielleicht erst wahrhaft aus der letzten Herzens-Enge in eine unerhörte spirituelle Weite geführt, die wirklich keine Grenzen mehr kennt, deren Horizont in die Unendlichkeit reicht.

  1. ↑A Act 8,26-35
  2. ↑B vgl. II Reg 2,9-10; Num 11,16-17; vgl. Joh 16,12-13; Luk 10,16
  3. ↑C Jes 53,11
  4. ↑D vgl. Jes 44,1-2.21; 41,8-9; vgl. Ps 44,23; Röm 8,36.17; Kol 1,24!
  5. ↑E vgl. Act 8,26-35
  6. ↑F vgl. I Petr 1,11-12
  7. ↑G vgl. Kol 2,16; Hebr 1,1-2
  8. ↑H vgl. Gal 2,20; 4,19; 3,27-28; Kol 1,27-29; 3,3-4.11; Röm 2,14-15.28-29
  9. ↑I vgl. Phil 2,6-8
  10. ↑J Luk 15,11-24
  11. ↑K vgl. Joh 5,18-19.30; 10,33-35; 13,3-5; 14,8-9; 15,13
  12. ↑L vgl. Gal 5,11-12
  13. ↑M vgl. II Kor 3,12-13; 4,2
  14. ↑N vgl. Mt 11,25.28-30; Apk 21,6; 22,17
  15. ↑O vgl. Kol 1,6.23; Jes 63,16; Röm 10,12-13.18; 3,29; 9,30; Jes 41,4-7; Mal 1,11.14; 3,20; Mk 9,38-40; Luk 10,25-37; Act 10,34-35
  16. ↑P vgl. Act 2,3-4.11
  17. ↑Q vgl. Jer 33,2-3; I Kor 2,9; II Kor 12,4; Ijob 36,16