Der große Tathagata:
Lockruf aus dem lodernden Flammenhaus
Kommentar: Eine Liebes-Erklärung
Teil 3: Kommentierung der einzelnen Kapitel
XXII-A. Bedeutung der Fahrzeuge
XXII-A. Bedeutung der Fahrzeuge
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Mit dem „kleinen Fahrzeug“ mit Ziegen-Gespann ist in dem (der Parabel zugrunde-liegenden) Buddha-Gleichnis (der „Lotos Sutra“) wohl (ursprünglich) der auf den Pali-Kanon begründete (ältere) Theravada-Buddhismus gemeint, A der wegen seiner atheistisch-agnotisch-nihilistischen Züge B von den „Mahayana“-Buddhisten, die sich nach dem „großen Fahrzeug“ benennen, C abschätzig als „Hinayana“-Buddhismus, Buddhismus des „kleinen (unzulänglichen) Fahrzeuges“ genannt wird. D
Die „Lotos Sutra“ will vermitteln: Die beiden Formen des Buddhismus sind keine verschiedenen Fahrzeuge, sondern gehören dem selben Fahrzeug an, das in die selbe Richtung ins göttliche Licht des selbst-losen Liebe zieht und führt. E
Doch welche religiöse Strömung ist mit dem mittleren Fahrzeug mit Hirschen-Gespann gemeint? Dies könnte den im polytheistischen Glauben seines Ursprungslandes Indien, den im Hinduismus aufgegangenen Buddhismus bezeichnen. F Vielleicht handelt es sich hier auch um alle anderen Religionen außerhalb des Buddhismus. Entsprechend werden die drei Fahrzeuge in der Parabel – in einer weitreichenderen Interpretation – auf alle denkbaren Glaubensrichtungen gedeutet, sofern sie sich nur von der uneigennützigen göttlichen Liebe getragen und sich Ihr darum verpflichtet erfahren:
Ziegen-Gespann:
Pantheisten (Hindus, Mystiker, Gnostiker); aber auch Agnostiker, Atheisten, Realisten, Existenzialisten, Materialisten, sofern diese sich (wie auch Siddharta Gautama – nach dem Hinayana- bzw. Theravada-Buddhismus) nur jedwedem meta-physischem Überbau verweigern, weil sie die meisten Glaubenslehren als naive Nötigungen vermeintlicher Autoritäten erfahren haben, die an der Realität vorbei gehen, und darum lieber – unbeeinflusst – nur der Stimme ihres Herzens und Gewissens folgen wollen, G sich dabei aber wohl der Liebe verpflichtet fühlen H
Hirsch-Gespann:
Polytheismus oder Henotheismus (mit einem hierarchischen Götter-Pantheon) wie in den antiken Religionen (Kelten, Germanen, Griechen, Römer) oder heute noch im Hinduismus oder bei Naturvölkern (Indianer, Aborigines); auch Heiligenverehrung (wie in der Römisch-Katholischen Kirche oder der Griechisch- und Russisch-Orthodoxen Kirche), Ahnenkult (wie im chinesischen sowie japanischen Konfuzianismus und Taoismus, aber auch im volkstümlichen indischen Mahayana-Buddhismus, in welchem der hinduistische Viel-Götter-Glauben integriert ist) I
Ochsen-Gespann:
Monotheismus der drei abrahamitischen Religionen des Judentums, Christentums und des Islam; aber auch der (den göttlichen Tathagata/Buddha verehrende) Mahayana-Buddhismus J
- ↑A Der Theravada-Buddhismus zählt ca. 85 Mio. Anhänger – hauptsächlich in Thailand, Sri Lanka, Burma, Kambodscha und Süd-Vietnam. Dieser lehnt Aussagen über die Existenz einer unsterblichen Individualseele sowie einer personellen Gottheit grundsätzlich ab und versteht das Nirvana nicht als einen jenseitigen Himmel, sondern als totale Auflösung jedes individuellen Selbst. Buddha wird hier entsprechend lediglich als ein a-gnotischer, a-theistischer Philosoph mit nihilistischen Zügen verehrt. Dieser weit ältere, aber bei weitem nicht so verbreitete Theravada-Buddhismus stützt sich auf den Pali-Kanon – auch „Tipitakam“, „Dreikorb“, genannt.
- ↑B (046) Buddha lehnte jede Form von Aussagen über das Metaphysische ab. Ihm ging es allein darum, den `giftigen Pfeil´ zu ziehen, statt sich mit unsinnigen Fragen aufzuhalten, woher dieser Pfeil denn kam, wer ihn warum abgeschossen hat. Buddha vertrat also einen streng pragmatischen Ansatz ohne jeden sinnlosen, da nicht weiter führenden, rein spekulativen metaphysischen Überbau, den darum jeder anwenden kann – ungeachtet, wie er zu metaphysischen Fragen steht.
Buddha betonte, dass es auf diesem Wege zur Erlösung nur wichtig ist, zu erkennen, was man nicht ist, was nicht zur eigentlichen Existenz gehört und was darum nicht rühren darf. Diese Erkenntnis befreit von jeder Selbst-Verhaftung, bringt Erlösung vom Selbst, und setzt Mitgefühl und Liebe für alle anderen leidenden Lebewesen frei, denen diese Erkenntnis noch fehlt.(040) Buddha ist hierbei so radikal, dass er selbst die eigene Persönlichkeit und Identität – ja, selbst das Bewusstsein, das sich über die leiblich bedingten Wahrnehmungsorgane bildet und mit ihnen (tatsächlich auch immer wieder vollends, unwiederbringlich) auflöst – vergeht und verschwindet, als das eigentliche „Ich“ verneint.
Was aber bleibt dann, was die Wiedergeburten-Kette überdauert und letztlich ins Nirvana eingehen kann? Zumindest keine Individual-Seele, wie sie in den monotheistischen Religionen angenommen wird, die (unter Beibehaltung ihrer ureigentlichsten Identität und Persönlichkeit) nur ihre leibliche Hülle wechselt. Das eigentliche „Selbst“ gleicht – nach Buddha – mehr der Hardware eines Computers, der immer wieder mit einer neuen Software bespielt wird, die sein Erscheinungsbild (die Identität, Person) ausmacht, bis auch diese Software wieder abstürzt
Buddha benutzte hierfür den Begriff der „Leere“. Im Bild gesprochen: Das leere Gefäß ist das Eigentliche, das bleibt – die wahrnehmbare Person ist nur eine Flüssigkeit, die in dieses Gefäß hinein und aus ihm wieder heraus fließt.
Im Buddhismus wird dies im Bild des Trägers und einer stets wechselnden Last beschrieben, die dieser zu tragen hat, solange er sich – gleich einem Esel – dem aussetzt, nach solch einer Last noch weiter verlangt. Befreiung liegt in der Erkenntnis, dass dieses vermeintliche flüchtige „Ich“ bzw. Ego, mit dem man sich identifiziert und dem man darum anhaftet, an dem man klebt, was alles Leid bewirkt, nicht das eigentliche „Selbst“ ist. (Vgl. hierzu auch die Anmerkungen IX/X. W / 052!) Wer das erkennt, wird von dieser Anhaftung befreit, geht ein ins Nirvana, die Auflösung jedes „Ich“ – und wird nicht mehr mit der Last einer neuen Software einer sich (andernfalls erneut bildenden) Reinkarnation belastet.
Was aber bleibt bei dieser total erscheinenden Auflösung? Ist jedes individuelle Sein und Leben in dieser Welt wirklich so negativ zu betrachten, dass man sich nur die totale Auflösung wünschen kann und diese erstreben muss? (Vgl. aber auch Mt 10,39!) …: ein völliges Vergehen, das doch recht stark an einen endgültigen Tod erinnert – einer nicht enden wollenden Nacht und Finsternis in totaler Bewusstlosigkeit?!
Doch muss der Verlust jedes „Selbst“-Bewusstseins wirklich den Verlust des Bewusstseins „an sich“ bedeuten, (da man doch – nach Buddha – sehr wohl noch zu Lebzeiten ins Nirvana eingehen kann!) oder führt diese Selbst-Auflösung, die Auflösung jedes Selbst-Bewusstseins, vielleicht zu einer Erweiterung des Bewusstseins, das an kein Selbst mehr gebunden ist und im Absoluten (Bewusstsein) ein- und aufgeht (vgl. I Kor 13,8-12; 15,28; I Joh 3,2; II Kor 4,16-18)?
Buddha verweigert lediglich eine Bestimmung dessen, was das eigentliche „Ich“ und das „Nirvana“ ist, in das dieses (irgendwie doch weiter existierende) „Selbst“ doch immerhin eingeht – weil diesseitige Worte und Vorstellungen einfach nicht hinreichen, um diese völlig jenseitige Wirklichkeit zu beschreiben, die darum von allen Leiden jeder diesseitigen Bestimmtheit und Anhaftung befreit ist (vgl. I Kor 2,9; 15,35-37; I Joh 3,2).
Das heißt jedoch nicht, dass Buddha diese jenseitige Wirklichkeit an sich auch negiert. Sie ist nur so völlig andersartig zu unserem diesseitigen Leben, das – nach Buddha – in Wahrheit nur leidvoller Tod ist (vgl. Eph 2,1), dass es außerhalb jeder Vorstellungskraft liegt – das wahre, wirkliche Leben!- vgl. Themen und Inhalte der Satya ›P‹raha
Buddha kann also so wenig vom Nirvana reden, wie die Größen der Dialektischen Theologie von Gott. Buddha nachzusagen, er würde deshalb die – wie auch immer geartete Existenz – eines „Nirvana“ wie eines „Ich“ leugnen, wäre genauso absurd, wie wenn man den Vertretern der Dialektischen Theologie unterstellen würde, sie stellten die Existenz Gottes in Frage. Freilich, ein Karl Barth etwa äußert sich – eingedenk seines Auftrages, doch das Unsagbare sagen und von Gott künden zu müssen – dann wiederum über diesen höchst umfangreich und beredt. Es gab aber auch andere – etwa den großen Theologen Augustinus, der nach einem visionären Traum sein Leben lang kein Wort mehr über Gott sagte – jedoch nicht aus Zweifel an dessen Existenz, sondern aus Ehrfurcht vor dessen Existenz: Als er in einem Traum ein kleines Mädchen verlachte, dass mit einer Muschel das Meer zu schöpfen suchte, erwiderte diese ihm schnippisch „Und was versuchst du mit Gott?!“
Ähnlich dem älteren, reiferen Augustinus verweigerte Buddha sich hier jeder Aussage von Anfang an konsequent; er musste darüber wohl auch nicht viel Worte verlieren: Er strahlte diese jenseitige Wirklichkeit aus – wie wohl auch jener Mönch, der ihn selbst einst auf den Weg der Sinnsuche gezogen hat.
Buddha lebte im Nirvana. Und was die Menschen um ihn an ihm sahen, ihm abspürten, das genügte, das Verlangen in ihnen zu wecken, dieses unsagbare Mysterium, von ihm „Dhammo“ genannt, selbst zu ergründen. Zu nichts anderem auch ermunterte Buddha: „Es ist nicht aussagbar, nur persönlich erlebbar. Was allein ich euch sagen und zeigen kann, ist, was ist der Weg und was ist nicht der Weg (- hin zu dieser wunderbaren mystischen Erfahrung).“ Buddha war – überspitzt und provokativ formuliert – also gewissermaßen ein theologisch begründet motivierter rein pragmatisch ausgerichteter Esoteriker und Mystiker. –Nachdem Buddha nun aber nur in Negationen von diesem Leben eines „Ich“ im „Nirvana“ sprach, weil es mit diesseitigen Vorstellungen und Wahrnehmungen einfach nicht zu fassen ist (vgl. I Kor 2,9), interpretieren viele Buddha so, dass er ein bestehendes „Ich“, wie dessen Fortbestehen und letztlichen Eingang in einen jenseitigen Himmel verneint und nihilistisch negiert.
Wie Buddha in dieser Hinsicht letztlich recht zu interpretieren ist, begründet auch das spannungsvolle Verhältnis zwischen dem Hinayana- und dem Mahayana-Buddhismus. Grundaussage des Buddha bleibt jedoch – hier wie dort: Dieses kleine, leidvolle „ich“, an das wir uns hängen, an dem wir so kleben, das uns vom wahren Leben in und mit allem egozentrisch isoliert und uns an falschen, trügerischen Lebens-Inhalten und -Sicherheiten anhaften lässt, was alles Leiden verursacht (vgl. Mt 10,28,6,19-21.24-34; Luk 12,15; Kol 3,5; I Tim 6,10), ist jedoch völlig bedeutungslos wie flüchtig, nichtig, vergänglich (vgl. Ijob 1,21; I Tim 6,7) – und angesichts all des Leides, das es produziert, einer weiteren Anhaftung nicht wert.
Wer das erkennt, wird frei, erlöst vom falschen zum wahren Selbst, der geht durch die Auflösung des „Ich“, das nur Leid und Tod ist (vgl. Mt 8,22), ein ins Nirvana, das das wahre Leben ist.
Wer dies wirklich erfasst hat, wird die Nähe – wenn nicht gar Gleichheit – zur Botschaft des Christus (- Vgl. Mt 10,39! -) erkennen: Erlösung liegt in wahrhaftiger, vollkommener Selbst-Losigkeit – nicht nur als einer Erlösung des Selbst, sondern – paradoxer Weise – als einer Erlösung zugleich vom Selbst (vgl. Gal 2,20; Phil 2,3), weil jede Form von Selbst-Verhaftung, wie fromm, religiös und jenseits-orientiert sie sich auch immer geben und gestalten mag (vgl. Röm 10,1-3), letztlich nur Gebunden- und Gefangen-Bleiben in Angst, Schmerz und Leid sowie in spirituellen wie physischen Tod bedeuten kann (vgl. Mt 8,22; Gal 5,4).
Jedes Ich-Bewusstsein ist und bleibt leid-erzeugende Illusion, was sie als Trugbild schließlich auch erzeugen muss (vgl. II Kor 13,5; 4,4). Diese pure, reine Erkenntnis bewirkt Befreiung und Lösung, Erlösung (vgl. I Tim 2,4; Joh 8,31-32) aus dieser Illusion (vgl. Botschaft des Filmes „Matrix“) – Leichtigkeit, spirituelle Schwerelosigkeit, die auch über die physischen Begrenzungen ins Übersinnliche hinaus wachsen lässt.
Hier auch begegnen sich dann der Hinayana- und Mahayana-Buddhismus. Sie führen letztlich zum selben Ziel. Dem neuzeitlichen Menschen mag hierbei der ursprünglichere Buddha-Weg des Theravada-Buddhismus unheimlich modern erscheinen und – angesichts seines Jahrtausende überdauernden Bestehens – eine zeitlos gültige Wahrheit zu vermitteln (vgl. Act 5,38-39), die frei von jedem kindlich-naivem volkstümlich-heidnischen Gott- und Götterglauben erscheint, sich zugleich aber mit all diesen Vorstellungen auch verbinden, von ihnen (wie im Mahayana-Buddhismus) anreichern lässt. Entscheidend bei dem Buddha-Weg ist immer die praktisch zu beschreitende `Methode´, bei der es zunächst gilt, sich von allen religiösen Autoritäten zu lösen und den eigenen Weg der Wahrheits-, Selbst- und evtl. auch Gottes-Erkundung zu beschreiten.- vgl. Themen und Inhalte der Satya ›P‹raha
Wahre Erlösung kann nicht einfach nur geglaubt, in Form von bloßer unkritischer, autoritätsgläubiger Übernahme von Glaubenssätzen anderer gefunden werden. Wahre Erlösung will selbst gesucht, gefunden, erlebt und erfahren werden (- in christlicher Metapher: „Und wäre Christus tausendmal geboren, wenn nicht in dir, so bliebst du doch verloren“) Das ist die Wahrheit, die Buddha erlebt und bezeugt hat, die unabhängig von jeder Religion gilt, wie sie zugleich auch in jeder Religion und Weltanschaung gefunden und erlebt werden kann (vgl. Röm 1,14-15.28-29; 10,12-13.18): Die Erlösung des „Ich“ liegt in der Lösung vom ego-zentrischen „Ich“ – im grenzenlosen Mitgefühl göttlich selbst-loser Liebe.
Was nun aber ist das eigentliche „Selbst“, das bleibt? Es liegt jenseits irgendwelcher zeitlicher, flüchtiger personeller Erscheinungsformen, erscheint als ein a-personeller (oder aber über-personeller!) Urgrund des Lebens und Seins.
Manche mögen es in den Genen sehen, die sich immer wieder in verschiedenen sich bildenden und wieder auflösenden Individuen manifestieren. Aber auch dieser a-personelle Urgrund des biologischen Lebens kann es nicht sein – wäre noch zu viel und zugleich viel zu wenig: Denn auch ein spezifischer Genstrang, eine Gattung, ja, das ganze Genpool und alles biologische Leben ist – wie wir wissen – der Vergänglichkeit unterworfen, auch wenn genetische Verbindungen als eine Art Lebensform über Jahrmillionen existieren sollten: Auch ihr Verlöschen ist vorgezeichnet und in den Unendlichkeiten des Kosmos nur ein flüchtiges Aufflackern.
Was also ist das ureigentlichste „Ich“ aller Individuen? Es muss selbst noch jenseits der Gene liegen. Vielleicht kann ein Gedankenspiel helfen: Wir sitzen alle in einem Zug und sehen, wie sich ein Nachbarzug in Bewegung setzt. Wir sind irritiert: Bewegt sich unser Zug oder der andere? So ist es mit uns in der Zeit: Bewegen wir uns durch die Zeit, oder bewegt sich der Zeitfluss an uns vorbei? Verfließt uns die Zeit oder wir in der Zeit? Nur ein Betrachter gänzlich außerhalb beider Züge erkennt die Wahrheit: Beide sind in Bewegung, im Verfließen – das „Ich“ wie die Zeit. Aber auch dieser Betrachter sind wir, denn wir nehmen an uns selbst wie an der Zeit das Verfließen wahr: Bald bin ich Kind, bald Erwachsener, Vater, Großvater (/Mutter, Großmutter), bald Schüler, bald Arbeiter, bald Rentner, bald lebendig, bald tot. Ich nehme diesen Wandel an mir selbst wahr. Könnte ich das, wenn ich nicht selbst auch außerhalb all dieser flüchtigen Erscheinungsformen meiner Person bestünde? Dann würde ich von all dem wohl überhaupt nichts wahrnehmen können! Ich bin das alles – flüchtig, auf Zeit – aber zugleich auch nichts von all dem und sehe es, mein geschichtliches „ich“ wie auch die Zeit selbst, an mir vorüber ziehen und verfließen.
Leib und Seele, seelischer Leib und leibliche Seele vergehen (vgl. I Kor 15,36-37.44-46). Was bleibt ist Geist, reiner Geist, kein Kind der Zeit, sondern die Ewigkeit. In ihr liegen alle Seelen, alle Leiber, alle Zeiten. Wenn ich (erkenne, dass ich) darin gegründet bin (vgl. Hebr 6,19; 4,10), bin ich frei von allem leidvollen Flüchtigen, was ich nicht bin und nicht sein kann, weil, solange ich daran hafte, dies leidvoll ist (vgl. II Kor 4,16-18), meine eigentliche Existenz also schmerzvoll einengt und begrenzt. Enge und Angst, Leid und Tod, ist die Folge einer solchen nichtigen Nicht-Existenz.
Wer sich von diesem Fluss löst, geht ein in eine göttliche Ruhe und findet Seelenfrieden (vgl. Hebr 4,10-11). Er gründet nicht mehr in der Zeit, sondern in der Ewigkeit (vgl. II Kor 4,16-18) und wird dadurch zu einem starken, unerschütterlichen Fels in der Brandung (vgl. Mt 16,18). Solche Überlegungen zeigen, wie man – ganz pragmatisch-analytisch beobachtend – ohne jeden metaphysischen Überbau doch dem Diesseits entschwindet und in eine Unaussprechlichkeit vordringt, die dem Jenseits, der Metaphysik zuzuordnen ist. Hier berührt sich Philosophie (als die sich der Buddhismus ursprünglich verstand) und Religion – in der mystischen Erfahrung, die allen beiden Ansätzen gemein ist. - ↑C Der Mahayana-Buddhismus stellt die am weitesten verbreitete Form des Buddhismus. Er zählt weltweit ca. 300 Mio. Anhänger – hauptsächlich in China, Japan und Indien. Im Mahayana-Buddhismus genießt Buddha als Erscheinung des großen ewigen Tathagata göttliche Verehrung. Der Mahayana-Buddhismus stützt sich auf den Sankrit-Kanon sowie auf den Chinesischen Kanon, zu deren bedeutendsten Schriften (`Sutren´) die „Lotos Sutra“ gehört.
- ↑D Nicht nur wegen seiner weit geringeren Verbreitung, sondern insbesondere wegen seiner Ablehnung jedes metaphysischen Überbaus wird der Theravada-Buddhismus vom Mahayana-Buddhismus abschätzig auch als „Hinayana“-Buddhismus, also als Buddhismus des „kleinen, mangelhaften Fahrzeuges“, bezeichnet. Entsprechend ist davon auszugehen, dass mit dem kleinen Fahrzeug mit Ziegengespann in der „Lotos Sutra“ der Hinayana-Buddhismus gemeint ist.
- ↑E Nachdem Buddha selbst verheißen hat, dass seine Lehre nach 500 Jahren eine Verfälschung erfahren würde (Cullavaggo X,I,6), besteht Uneinigkeit zwischen den beiden Formen des Buddhismus, wer das wahre Erbe angetreten hat.
Der Mahayana-Buddhismus glaubt an eine unsterbliche Seele, welche alle Reinkarnationen überdauert und einstmals in ein paradiesisches Nirwana eingeht, aus welchem Buddha als der Erste, der Vollendung erlangte, heilswirksam als ewiger Begleiter aller Seelen in alle Welt hinein einwirkt – der Hinayana-Buddhismus dagegen verneint die Existenz einer unsterblichen Seele und sieht in ihrem endgültigen totalen Verlöschen und Verschwinden, ohne (in Form einer Reinkarnation aufgrund von Anhaftung an das diesseitige Jammertal) eine neue Seele (als ihr karmisches Kind) hervorzubringen, die Erlösung, womit auch Buddha, der diesen Heilsweg gefunden hat, auf ewig entschwunden und ein für alle Mal verlöscht und vergangen ist.
Erstere (die Mahayana-Buddhisten) glauben also an ein Jenseits, eine unsterbliche Seele und vergöttern Buddha als ihren Erlöser, Letztere (die Hinayana-Buddhisten) dagegen glauben an kein Jenseits, keine unsterbliche Seele, weswegen Buddha für sie lediglich als der größte menschliche Lehrer und Philosoph aller Zeiten, der je gelebt hat (aber ein für allemal gestorben ist), verehrt wird.
Die beiden Richtungen des Buddhismus (Hinayana-Mahayana) lassen sich mit den beiden Lagern im Judentum während der Zeitenwende vergleichen: den a-gnostischen Sadduzäern, die Seele, Geister und eine Auferstehung leugneten – und den Pharisäern, welche diese lehrten (vgl. Act 23,7-8).
Eine ähnliche Spannung gibt es heute innerhalb des Christentums zwischen der historisch-kritischen Forschung und dem christlichen Fundamentalismus: War Jesus nur ein schlichter Mensch oder ist Er der zu Gott erhöhte Gottessohn?
Die „Lotos Sutra“ will offensichtlich zwischen dem Mahayana- und Hinayana-Buddhismus vermitteln: Ungeachtet davon, ob man Buddha nur als Philosophen oder aber als Erlöser-Gottheit verehrt, ob man an eine jenseitige Existenz glaubt oder nicht: Wenn man nur die praktischen Lehren des Buddha, die von ihm gefundene und gekündete `Methode´ umsetzt, die zu selbst-los mitfühlender Anteilnahme an allem führt. so befindet man sich auf dem rechten Fahrzeug – hinlänglich, ob es das kleine oder das große ist.
Der buddhistische Mönch Kumarajiva (343-413 n. Chr.) , von indischer Herkunft, übersetzte die „Lotus Sutra“ aus dem (indischen) Sanskrit ins Chinesische. Seine Übertragung, die sich von früheren und späteren `Ausgaben´ der „Lotos Sutra“ (die selbst um 200 v. – 200 n. Chr. verfasst worden ist) unterscheidet, gilt in China und Japan als die autoritative, `kanonisch´ korrekte Quelle. Kumarajiva hat also, wie andere vor und nach ihm, die in Indien hauptsächlich mündlich tradierte „Lotos Sutra“ niedergeschrieben und in die chinesische Sprache wie Anschaungswelt `übersetzt´, wenn nicht gar (in diesem Zuge, im Geiste Buddhas) streckenweise selbst verfasst.
Kumarajiva kannte beide Traditionsstränge des Buddhismus. Er selbst hatte sich vom „Hinayana“- Buddhismus, dem „Kleinen Fahrzeug“, zum „Mahayana“-Buddhismus, dem „Großen Fahrzeug“, `bekehrt´ – oder aber, wie er selbst es wohl erlebt hat, hin entwickelt. Dem gemäß führte der Theravada-Buddhismus ihn aus der rein pragmatischen Anwendung irgendwann regelrecht zwingend ins Mystisch-Metaphysische, weswegen er auch in beiden Wegen das selbe Ziel erkannt und bekannt hat.
Die Botschaft des vorliegenden Gleichnisses könnte also durchaus auch (erst) aus der Feder und dem Erfahrungsschatz Kumarajivas hervor gegangen sein, welcher erkannte: Beide Traditionsstränge des Buddhismus haben ihr Recht und liefern verschiedene Zugänge zu der einen selben göttlichen Wahrheit, die sich auf vielfältigste Weise mitteilt und finden lässt. - ↑F Das Fahrzeug mit Hirschgespann könnte auch den indischen Buddhismus meinen, der mit dem volkstümlich-naiven hinduistischen Vielgötterglauben verschmolzen ist. So gibt es also drei Spielarten des Buddhismus:
-
- den rein pragmatisch ausgerichteten, mitunter nihilistisch, a-gnostisch, a-theistisch
erscheinenden (oder ausgeprägten) Hinayana- bzw. Theravada-Buddhismus, - den monotheistisch (mit seiner Erlöserfigur Tathagata
regelrecht christlich) anmutenden Mahayana-Buddhismus - sowie den polytheistisch entfalteten indisch-hinduistischen Buddhismus.
- den rein pragmatisch ausgerichteten, mitunter nihilistisch, a-gnostisch, a-theistisch
Die Grund-Aussage und -Botschaft des vorliegenden Buddha-Gleichnisses wäre dann, dass all diese höchst unterschiedlich erscheinenden Ausprägungen des Buddhismus in Wahrheit keine Gegensätze darstellen, sondern in ihrem Kern das selbe wollen und herbeiführen: Erlösung und Heil.
Diese tolerante Einstellung des Buddhismus – auch gegen andere religiöse Einstellungen – hat seine Ausbreitung ganz wesentlich begünstigt und schließlich auch für die Entfaltung in diesen drei Haupt-Strömungen im asiatischen Raum gesorgt.
Der Buddhismus findet sich also in drei Strömungen, im Hinayana- und Mahayana- sowie im indisch-hinduistischen Buddhismus.
Interessanter Weise findet sich diese Drei-Gestalt aber auch in den anderen Religionen! So fächert sich der Monotheismus in drei abrahamitischen Religionen – das Judentum, das Christentum und den Islam – auf, die sich alle auf ihren Glaubensvater Abraham berufen, der dem Ruf des einen Schöpfergottes aller folgte (vgl. Röm 4,12.16; Gal 3,7.9).
Diese selbst wiederum teilen sich jeweils auch wieder in Dreiheiten:
Im Christentum ist des einmal die Römisch-katholische Kirche (unter dem Papst), ferner die (ägyptische) koptische sowie griechisch- (und daraus hervor gegangene) russisch-orthodoxe Kirche (unter ihren Patriarchen), sowie schließlich die evangelisch-reformierten Kirchen (und daraus entfalteten) Pfingstgemeinden, Freikirchen und christlichen Sekten.
Auch den Islam kennzeichnet eine ähnliche Dreiteilung – in Schiiten, Sunniten und Alleviten.
Das Judentum könnte man teilen in ein atheistisch rein diesseits-orientiertes philosophisches Lager (in Nachfolge der Sadduzäer), ein theistisch fundamentalistisch-orthodoxes Lager (der Rabbiner in Nachfolge der Pharisäer und deren Talmud), sowie in ein mystisch-esoterisches Lager (der Chassidim, Kabbalisten). (Vgl. Act 23,7-8)
Ja, selbst den Polytheismus, der religionsgeschichtlich am Anfang stand und weltweit zu finden war, könnte man nach seinen kontinentalen Ausprägungen (Afrika/Amerika/Australien – Europa – Asien) teilen. Dies zeigt sich beispielsweise an der Ähnlichkeit seiner Vorstellungswelten, die beispielsweise im europäischen Raum zu einem Synkretismus zwischen dem griechisch-hellenistischen und römischen Polytheismus geführt hat, wo die verschiedenen Gottheiten beider Pantheons einander gleichgesetzt und miteinander identifiziert wurden. -
- ↑G vgl. Prov 4,23; Ijob 13,7-10: Mahnung, nicht aus falscher Angst vor dem Ansehen der Person Gottes das eigene Rechtsempfinden einer vermeintlichen Gottes-Gerechtigkeit, die absolut nicht ersichtlich ist (vgl. Koh 4,1-39), zu-zu-biegen: Beispiel Röm 9,9-13.19-21: Der Verstand mag der Gerechtigkeit Gottes recht geben müssen, das Rechtsempfinden des Herzens dagegen wird hierzu immer „Nein!!!“ schreien müssen:
Wenn die höchste Gottheit ungetrübtestes Licht ohne jede Finsternis (I Joh 1,5) und unüberbietbarste Liebe (I Joh 4,16; I Kor 13,4-7) ist, und Ihre Gerechtigkeit über aller Gerechtigkeit erhaben (Jes 55,8-9), kann und darf Sie so nicht sein, dies – solch ein unerfindlicher Ratschluss zu ewigem Unheil für die einen, wie zu ewigen Heil für die anderen – nicht Ihr letztes Wort sein! Denn was Recht und was Unrecht ist, sein und bleiben muss, weiß schon ein Kinderherz (vgl. Luk 18,17). Erst Röm 11,29.32.36, der dem kindlichen Vertrauen, das über aller scheinbaren Ungerechtigkeit an eine höhere Gerechtigkeit glaubt, die am Ende allen zum Recht verhilft (vgl. I Joh 2,1-2; 3,19-20), gibt diesem berechtigten Herzenswiderspruch (auf Röm 9,19-21) Antwort, Ruhe und Frieden. Vgl. H! - ↑H So können sehr wohl auch Atheisten, die – aufgrund verdrehter Gottes-Ansichten und -Bekenntnisse, welche den Gottes-Namen mehr schmähen, als ihm Ehre anzutun (vgl. Röm 2,24) – von einem Gott-Glauben abgestoßen sind, sehr wohl eine innere Herzens-Neugeburt in der Liebe erfahren haben (vgl. Röm 2,14-15.28-29), die vielleicht – selbst in ihrer unerschrockenen Auflehnung gegen Gott! (vgl. I Joh 4,18; Apk 3,15-16) – gar lauterer sein kann, als die („Gottes-Liebe“) mancher Gläubiger, die allein um ihrer eigenen ewigen Seligkeit willen aus einem falschen Lohn-Gedanken heraus zur tätigen Liebe fähig sind.
Ein Beispiel hierfür mag der atheistisch-existentialistische Schriftsteller Albert Camus (1913-1960) geben, der – trotz seines Verzweifelns an Gott angesichts des schreienden Leids aller Existenz – doch allein im sinnlosen Kampf der sinnlosen Liebe dem sinnlosen Dasein noch einen Sinn abgewinnen kann.
Aber kann, darf es so etwas geben? Ein Christentum ohne Christus – ja, sogar ohne jeden Gott?! Ein a-theistisches, a-gnostisches Christentum? Kann solch eine Spielart des Christentums bei Gott Anerkennung finden? Und darf so etwas im Namen Christi gelehrt, gar verkündigt werden? Saint-Exupére bringt es wohl in seinem „Kleinen Prinzen“ auf den Punkt: „Man muss mit dem Herzen sehen. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
Christus wird an der Himmelspforte kein Glaubensbekenntnis abfragen. Er wird die Seinen vielmehr daran erkennen, ob sie sich Ihm zugewandt haben in der je nächsten bedürftigen, geplagten und geschundenen Kreatur – vom eigenen Chef bis zum in der glühenden Sonne auf Asphalt versengenden Wurm (vgl. Mt 25,40.45). Er wird nicht urteilen nach dam, was vordergründig vor Augen ist (vgl. Mt 16,8). Er sieht vielmehr das Herz an (I Sam 16,7; Jes 11,3-4). Und selbst ein Herz, das sich selbst verdammen zu müssen meint, darf getröstet sein: Er, Christus, Er weiß um alles! (I Joh 3,19-20)
Das wahre, wahrhaftige Christentum ist also noch weit größer als das Namens-Christentum – keineswegs auf dies und seine kleingeistig miteinander buhlenden Konfessionen und Denominationen beschränkt. (vgl. I Kor 1,10-13; 3,18) In der neuzeitlichen liberalen Theologie nähert man sich zunehmend – auch immer klarer und unmissverständlicher – dieser urchristlichen Einsicht: Heute spricht man von einem weit größeren weltumspannenden, religions-übergreifenden `anonymen Christentum´ – unter dem sich bestimmt auch die Spielform eines a-theistischen Christentums findet, dem Nächstenliebe – auch ohne Ausblick darauf, dass der Herr bald kommt, und Sein Lohn mit ihm – eine schlicht empfundene Herzensregung ist (vgl. I Joh 4,16).- vgl. Themen und Inhalte der Satya ›P‹raha
- ↑I Siehe hierzu Kapitel VI / 049b, und XVII / 036c!
- ↑J Siehe hierzu Kapitel VII/VIII (/XIII) / 053!